Donnerstag, 28. April 2011

"es zieht"

Wenn man mich heute fragen würde wie alt ich bin - die Antwort käme wie aus der Pistole geschossen - 105 oder eher noch ein bisschen älter. 
Jede Bewegung scheint gegen einen Widerstand zu erfolgen, der Kopf brummt noch immer , irgendwie scheint heute alles zu autschen - und ich bin so müde als hätte ich eine Schlaftablette genommen - und das obwohl ich letzte Nacht eigentlich gut und lange geschlafen habe... 
Ach, dann sag ich jetzt einfach mal was die Leute so oft sagen "es liegt am Wetter". Im Zweifelsfall ist immer das Wetter verantwortlich - 
für Langeweile, Trübsinn, Trägheit, Verrücktheit, Müdigkeit, Albernheit, Tatendrang, guter Laune, schlechter Laune...

... und wenn es das Wetter mal ausnahmsweise nicht sein kann, dann ist es eben das Alter... Mit dem Alter kommen tatsächlich Wehwehchen von denen man als junger Mensch nicht einmal geträumt hätte.
Am meisten muss ich heute lachen wenn "es zieht". 
Früher wenn jemand von "sich einen Zug holen" sprach oder eben davon das es zieht - ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung wovon diese Menschen sprechen. 
Was mir noch gut in Erinnerung geblieben ist - ein älterer Herr schimpfte einmal das es ziehen würde und ich antwortete, das es doch gar nicht kalt wäre - und damit habe ich ihn seinerzeit erst richtig auf die Palme gebracht und er schimpfte noch mehr... Er hätte ja auch nicht gesagt das es kalt wäre, sondern das es zieht... 
Heute kann ich Zugluft auch spüren - und das vielleicht einzigste was mich (noch) von dem alten Herrn unterscheidet - ich wähne mich wegen eines bisschen Zuglufts noch nicht in Lebensgefahr und das ich dabei bin mir "den Tod zu holen". 
Aber wer weiß - vielleicht ist das nur noch eine Frage ein paar weiterer Jahre bis ich das auch anders fühle ;-). 

Über das Wetter reden finde ich toll - irgendwie kann man über das Wetter bei jedem anderen Thema landen... bei Kerzenschein und Büchern, bei Urlaub, Sommer, Strand und Meer, gruseligen Schauergeschichten wenn es blitzt und donnert, ankuscheln, Frühlingsgefühlen, Klimaveränderungen, globale Erwärmung... es kommt immer nur auf den Gegenüber an und darauf wo man mit ihm landen will und kann... 


Über Krankheiten und Wehwehchen reden... und das dann immer und überall, hingebungsvoll, stundenlang mit einer Dramaturgie in den Schilderungen das Drehbuchautoren in Hollywood neidisch werden könnten... 
für mich ein untrügliches Zeichen das ich es mit einem wirklich alten Menschen zu tun habe - egal wieviele oder wenige Lebensjahre der Mensch schon hinter sich hat. 
Das heftigste was ich in der Sache je erlebt habe - ein Mensch schilderte mit größter Begeisterung das Drama seiner schweren Erkältung im letzten Sommer (solche Menschen kennen allerdings keine Erkältungen sondern nur Grippe... sinnlos ihnen zu sagen das nicht jeder Schnupfen gleich eine Grippe ist) - und während der Schilderungen kamen natürlich noch ganz viele andere dramatische Wehwehchen hinzu die auch noch Erwähnung finden mussten... Mein Versuch diesem Menschen mitzuteilen das er ja noch lebt und das alles ja nun vorbei ist und nicht in den Erzählungen wiederbelebt werden muss (letzters habe ich natürlich nur gedacht und nicht gesagt), kommentierte er mit "jetzt gönn mir doch meine Krankheiten". 

Wenn ich es mir jetzt recht überlege - ich fühl mich auch schon gar nicht mehr wie 105 ;-). 
Und nur um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen - ich rede nicht von wirklich kranken Menschen - sondern von denen die aus jedem Zipperlein ein Drama machen und jeden Arzt verfluchen der ihnen sagt das sie gesund sind und dann zeternd den nächsten aufsuchen in der Hoffnung das das ein "besserer" Arzt ist.
Und ich rede vielleicht auch ein bisschen von den Menschen, die noch nicht verstanden haben das wir heute zwar eine höhere Lebenserwartung haben - der Preis dafür aber mitunter recht hoch sein kann.
Wir können schon mit Mitte 40 längst nicht mehr das was wir noch mit 20 konnten - und wenn wir erst einmal 60 sind, dann ist es auch der Körper... wir werden älter - vielleicht laufen ein paar Alterungsprozesse langsamer ab, ist der Verschleiß weniger weil sich unsere Arbeitswelt grundlegend verändert hat, gibt es mehr und bessere Medizin - 
aber  höhere Lebenserwartung heißt eben nicht länger jung sein, sondern erst einmal nur länger leben und dabei immer älter zu werden - mit der entsprechenden Organalterung.

Neulich unterhielt ich mich erst mit jemandem über Jopi mit seinen weit über 100 Lebensjahren. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich Lust habe noch zu leben wenn ich längst nichts mehr sehe, höre, vom Kopf nicht mehr aufnehmen kann was um mich herum vor sich geht und eigentlich alle Menschen die zu meinem Leben gehört haben längst nicht mehr da sind. 
Ich gönne ihm seine Lebensjahre, aber ich komme nicht einen Augenblick auf die Idee ihn darum zu beneiden oder mir gar zu wünschen selber so alt zu werden.